An alle Abgeordneten
der Länderparlamente
der Bundesrepublik Deutschland
OFFENER BRIEF AN ALLE ABGEORDNETEN DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES
UND DER LÄNDERPARLAMENTE
Impfpflicht in Deutschland:
unbegründet, verfassungsrechtlich bedenklich, kontraproduktiv
Zehntausende haben seit dem 2. April 2019 eine Petition gegen eine Impfpflicht
unterzeichnet
Sehr geehrte Damen und Herren,
Bundesgesundheitsminister Spahn und Bundesfamilienministerin Giffey haben eine
Gesetzesinitiative zur Einführung einer Impfpflicht gegen Masern angekündigt. Mehrere
Bundesländer wollen Maßnahmen treffen, die den Besuch von Kindertagesstätten von
einer Impfung gegen Masern und ggf. andere Erkrankungen abhängig machen.
Wir warnen vor der Einführung einer direkten oder indirekten Impfpflicht in Deutschland
und möchten Ihnen eine realistische Grundlage für Ihre Entscheidung als Abgeordnete
vermitteln.
Weiterhin wollen wir Sie auf die problematische Rechtslage hinweisen und befürchten bei
Einführung einer Impfpflicht einen nicht absehbaren Schaden für das so notwendige Vertrauen
der Bevölkerung in Schutzimpfungen allgemein.
Zunächst die offiziellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts:
• In den ersten Monaten 2019 lagen die Erkrankungsfälle an Masern deutlich unter denen
von beispielsweise 2017 oder 2015 und weit unter dem Durchschnitt der Jahre seit 2001.
In keinem Bundesland kam es in den vergangenen Jahren zu dem vielbeschworenen
„ständigen Anstieg der Masernzahlen“.
• In allen Bundesländern sind die Durchimpfungsraten für die erste Masernimpfung
seit Jahren kontinuierlich angestiegen und liegen inzwischen bei durchschnittlich 97
Prozent. Für immer mehr Eltern ist es eine freiwillige Selbstverständlichkeit, ihre Kinder
gegen Masern impfen zu lassen.
• Schwankungen bei der Durchimpfungsrate für die (ohnehin übersch.tzte) zweite
Masernimpfung sind keinesfalls Ausdruck von Impfverweigerung oder Impfmüdigkeit.
Die meisten Eltern sind, wenn sie sorgfältig aufgeklärt werden, zu dieser zweiten
Impfung bereit (in Sachsen ist sie – wie in den meisten anderen europäischen Ländern –
ohnehin erst im Alter von 4 – 6 Jahren empfohlen). Eine angemessene Vergütung der
Impfberatung würde hier viel helfen.
• In allen Bundesländern sind die Masern seit Jahren vor allem eine Erkrankung älterer
Jugendlicher und Erwachsener. Eine Impfpflicht für diese Altersgruppe ist unrealistisch
und wird auch von keiner relevanten gesellschaftlichen Gruppierung gefordert. Hier
hilft nur Aufklärung. Die aktuell diskutierte Maßnahme, den Besuch einer Kindertagesstätte
mit einer Impfpflicht zu verbinden, betrifft die Altersgruppe der unter 6-Jährigen.
Diese spielt in allen Bundesländern jedoch bei den Masern-Erkrankungen eine völlig
untergeordnete Rolle.
Verschiedene Landtage (Brandenburg, Nordrhein-Westfalen) versuchen nunmehr, mit der
Verknüpfung von Kinderbetreuung und Impfstatus eine Impfpflicht durch die Hintertür
einzuführen. Das uneingeschränkte Recht von Kindern auf einen Betreuungsplatz gemäß
SGB VIII § 24 ist eine wesentliche sozialstaatliche Errungenschaft der letzten Jahrzehnte – es
steht für die Chancengleichheit und Teilhabe von Kindern aller Bildungsschichten an
frühkindlicher Förderung, ist eine wesentliche Säule elterlich gleichberechtigter Partnerschaften
und in vielen Familien für die Berufstätigkeit beider Eltern unverzichtbar. Dieses
hohe Gut darf nicht leichtfertig und ohne Not angetastet und eingeschränkt werden.
Und eine rechtfertigende Not – das zeigen die offiziellen Zahlen zu Masern eindeutig – bestand
und besteht in Deutschland nicht: In Brandenburg zum Beispiel ist im Jahr 2019 noch
kein einziger Masernfall gemeldet worden. Die Impfquoten sowohl für die erste, als auch für
die zweite Masernimpfung liegen in der von der Weltgesundheitsorganisation geforderten
Höhe. Von den Initiatoren der Impfpflicht in Brandenburg wurde mit Impfraten der zweiten
Masernimpfung in einem Alter argumentiert, in dem diese von der WHO, in anderen europäischen
Ländern und z. B. auch in Sachsen offiziell noch gar nicht empfohlen ist.
Ob eine Impfpflicht die Durchimpfungsraten überhaupt erhöht, ist mehr als fraglich: In den
meisten europäischen Ländern mit einer Masernimpfpflicht liegen die Impfquoten für die
entscheidende erste Masernimpfung unter denen in Deutschland.
Weitere rechtliche Aspekte
Auch wenn Impfungen sinnvoll und vielfach notwendig sind, so stellen sie doch immer
einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Menschen dar. Dieses hohe
Rechtsgut ist neben dem des elterlichen Pflegeauftrags durch das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland ausdrücklich geschützt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages
betont in zwei aktuellen juristischen Gutachten die hohen verfassungsrechtlichen
Hürden für die Einführung einer Impfpflicht sowohl bei Erwachsenen wie auch bei Kindern.
Anders als bei der Pflichtimpfung gegen Pocken, die Mitte der 1970er Jahre ausgesetzt
wurde, stellen die Juristen die Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht gegen Masern in
Frage. Die vom Wissenschaftlichen Dienst aufgestellten Kriterien für die ausnahmsweise
Zulässigkeit einer Impfpflicht bei Kindern („hohe Gefahr eines fatalen Verlaufs für das Leben
oder die Gesundheit der Kinder sowie eine nicht untergeordnete Ansteckungswahrscheinlichkeit“)
treffen auf die Situation der Masern in Deutschland eindeutig nicht zu.
Der Verein „Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V.“ teilt diese Einschätzung: Es gibt
in Deutschland und Mitteleuropa seit vielen Jahren keine Infektionskrankheit, die so
bedrohlich wäre, dass sie einen derartigen Eingriff in fundamentale Grundrechte rechtfertigen
würde.
Die bestehenden Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes für zeitlich begrenzte Schutzmaßnahmen
(z. B. temporäre Betretungsverbote für Kindergärten und Schulen, bei Masern auch
gegenüber Ungeimpften bzw. Kindern ohne Immunstatus möglich, vgl. § 28 Abs. 2 IfSG)
reichen aus, um wirksam gegen Krankheitshäufungen vorzugehen.
Eine Impfpflicht ist kontraproduktiv
Eine Impfpflicht droht die Akzeptanz von Schutzimpfungen in der Bevölkerung sogar eher
noch verschlechtern. Zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung gelten zwar als impfskeptisch,
sie sind aber grundsätzlich offen für Argumente. Viele Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen
würden eine Impfpflicht als unberechtigen staatlichen Eingriff empfinden
und womöglich Impfungen, die nicht verpflichtend sind, eher ablehnen.
Diese Einschätzung wird durch aktuelle wissenschaftliche Studien untermauert (u. a. Betsch
2015) und von namhaften Fachleuten geteilt, u. a. dem derzeitigen Vorsitzenden der STIKO,
Prof. Dr. med. Thomas Mertens, seinem Vorgänger, Dr. med. Jan Leidel, dem Präsidenten des
RobertKoch-Instituts, Prof. Dr. med. Lothar Wieler, sowie dem Chef der Abteilung für Impfprävention
am RKI, Privat-Dozent Dr. med. Ole Wichmann. Auch die Deutsche Gesellschaft
für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) teilt diese Bedenken und hat sich
gegen eine Impfpflicht positioniert.
Angesichts dieser Tatsachen spricht sich der Verein „Ärzte für individuelle Impfentscheidung
e. V.“ nachdrücklich gegen jede Form direkter oder indirekter Pflichtimpfungen
gegen Masern oder andere Erkrankungen aus. Gefragt sind vielmehr Maßnahmen, die das
Vertrauen der Bevölkerung in Impfungen und in die für das Impfwesen zuständigen Behörden,
das in der Vergangenheit durch umstrittene Impfempfehlungen kompromittiert
wurde, wiederherstellen und stärken.
Petition gegen eine Impfpflicht
Am 2. April 2019 haben wir eine Petition an den Deutschen Bundestag unter dem Titel
„Deutschland braucht keine Impfpflicht“ auf den Weg gebracht. Zehntausende Menschen
haben sich seither daran beteiligt, so dass wir damit rechnen, das notwendige Quorum von
50.000 Unterschriften zeitnah zu erreichen.
Ein großer Teil dieser Menschen wäre von einer Impfpflicht betroffen. Gemeinsam mit
ihnen werden wir uns mit allen uns zur Gebote stehenden legalen Mitteln einsetzen:
gegen eine Impfpflicht, für eine gute und ergebnisoffene Impfaufklärung, und das –
hoffentlich – mit Ihrer Unterstützung!
Wir bitten Sie daher, Ihr Mandat und Ihre Funktionen zu nutzen und sich gegen jede Form
einer Impfpflicht in Deutschland auszusprechen.
Mit freundlichen Grüßen
für den Verein „Ärzte für eine individuelle Impfentscheidung“:
Dr. Jost Deerberg
Kinder- und Jugendarzt, Hamburg
Michael Friedl
Kinder- und Jugendarzt, Heidelberg
Dr. Martin Hirte
Kinder- und Jugendarzt, München
Dr. Steffen Rabe
Kinder- und Jugendarzt, München
Dr. Stefan Schmidt-Troschke
Kinder- und Jugendarzt, Berlin
Georg Soldner
Kinder- und Jugendarzt, München
Weitere Informationen sowie einen ständig aktualisierten Faktencheck
und viele weitere aktuelle Nachrichten finden Sie auf unserer Homepage unter
www.individuelle-impfentscheidung.de/Brief_Bundestag
Der Verein
Der Verein „Ärzte für Individuelle Impfentscheidung e. V.“ ist eine gemeinnützige Organisation
von ca. 600 Ärztinnen und Ärzten, die Schutzimpfungen grundsätzlich als einen
Bestandteil ärztlicher Vorsorge ansehen. Sie fordern den Erhalt einer freien, individuellen
Impfentscheidung nach differenzierter, umfassender und ergebnisoffener Beratung. Die
Mitglieder sehen sich der Ottawa Charta (WHO 1986) verpflichtet: „Gesundheitsförderung
zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre
Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen”.